Text wird "der Reihe nach" geschrieben und gelesen. Diese Linearität liegt jedoch nicht in der Natur des Mediums "Text", sondern an den bisher üblichen Text-Präsentationsmedien. Angefangen von der Papyrus-Rolle bis hin zum modernen Buch: Text wird wie selbstverständlich als Buchstabenwurm an einem langen Spieß aufgereiht. Frederic Vester beschreibt dies am Ende seines Buchs Neuland des Denkens folgendermaßen: "Das Medium »Buch« mit der linearen Anordnung eines in diesem Falle ca. 1,9 Kilometer langen Buchstabenwurms ist, wie letztlich die Sprache überhaupt, nur bedingt geeignet für das Thema, das ich mir hier vorgenommen habe. Der Versuch, ein Gesamtbild der vernetzten Wirklichkeit zu geben, die eigentlich nur simultan erfasst werden kann, muss daher zwangsläufig unvollkommen bleiben."
Ohne auf die metaphysische Verzweiflung, die in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, näher einzugehen, lässt sich feststellen: es gibt eine moderne Kritik an der Linearität. Nicht unbedingt an der Linearität auf der Ebene einzelner Sätze oder Passagen, sondern auf der Ebene eines größeren Textes, der aus vielen, in sich erkennbaren Teilen besteht und aufgrund seines Präsentationsmediums dazu verdammt ist, von vorne bis hinten wahrgenommen zu werden.
Hypertext ist ein nichtlineares Medium zur Präsentation von solchen Texten. An die Stelle des Buchstabenwurms treten vernetzte Einheiten von Text. Durch die Unterstützung der Computer schwindet die Abhängigkeit von der Rolle, vom rein linearen Medium. Bei Weiterdenkern hat das die Hoffnung ausgelöst, man könne das Verfassen und Lesen von Texten dem menschlichen Denken und Verstehen besser anpassen als bisher.
Hypertext ist nicht etwas anderes als Text. Hypertext ist nach wie vor Text, nur kein Text mehr, der dem Leser durch sein reines Erscheinungsbild suggeriert, man müsse ihn von vorne bis hinten lesen. Vermittelt wird auch bei Hypertext Information, Unterhaltung usw. Unter den Medien geht der Trend allerdings hin zu visuell auffälligeren Medien, also zu Bildern, Videos, und simulierten, bewegten Welten. Die konsequente Weiterentwicklung von Hypertext ist deshalb "Hypermedia". Hypermedia ist jedoch etwas anderes als "Multimedia", das in aller Munde ist. "Multimedia" heißt nichts anderes als: "viele Medien zugleich". "Hypermedia" bedeutet dagegen: "viele Medien, jedoch in einer Weise organisiert, wie es von Hypertext her bekannt ist". Das Präfix "Hyper-" steht also für eine bestimmte Art von Organisation. Diese Art von Organisation zeichnet sich aus durch Fragmentierung einzelner Einheiten einerseits und intelligente Vernetzung dieser Einheiten andererseits.
Nicht der Unterschied zwischen "Hypertext" und "Hypermedia" ist entscheidend, sondern der Unterschied zwischen "Hyper-" und "Multi-". Alles auf einmal serviert zu bekommen führt lediglich zu Reizüberflutung. Entscheidend ist für den Rezipienten, alles so serviert zu bekommen, wie er es sich jeweils wünscht. Dieses Versprechen versuchen Hypertext und Hypermedia einzulösen.
Stark strukturierte Bücher enthalten im Prinzip alles, was Hypertexte auch enthalten: hierarchische Strukturen (Kapitel und Unterkapitel), verbindende Elemente (Querverweise), sowie unterschiedliche Informationszugänge (Inhaltsverzeichnisse, Stichwortverzeichnisse). Der Unterschied liegt allein in der Präsentation: das Buch "empfiehlt" sich rein äußerlich trotz der nichtlinearen Angebote letztlich, linear bewältigt zu werden - "Seite für Seite". Bei Hypertexten, die am Bildschirm präsentiert werden, wird diese stillschweigende "Recommendation" von Büchern aufgebrochen.
Überspitzt kann man es so ausdrücken: Text in Büchern, auch in stark strukturierten Büchern, liest man; Hypertext dagegen liest man nicht, sondern man "navigiert" darin. Ob das Lesen dabei tatsächlich zu kurz kommt, ist eine durchaus ernstzunehmende Frage, der sich das Medium Hypertext stellen muss.
Es gibt durchaus auch Bücher, die nicht von vorne nach hinten gelesen werden. Lexika beispielsweise, oder auch Fachbücher mit Nachschlage-Charakter. Und genau bei dieser Sorte Literatur hat sich Hypertext bislang auch am erfolgreichsten bewährt. Kaum vorstellbar ist Hypertext dagegen bei literarischen Gattungen wie klassischen, aus einem klaren Handlungsstrang bestehenden Romanen. Andererseits besitzen die meisten modernen Romane eben keinen solchen klaren Handlungsstrang mehr. Seit mindestens hundert Jahren schon bewegt sich auch die schöngeistige Literatur weg von der Linearität. Damit wird sie ebenfalls relevant für Hypertext, auch wenn sich auf diesem Gebiet alles eher noch in der Experimentierphase befindet.
Hypertext wird heute ausschließlich auf Computern realisiert, weil Computer die spezifischen Anforderungen von Hypertext hervorragend unterstützen. In der Vergangenheit gab es jedoch auch Versuche, so etwas wie Hypertext mit herkömmlichen Mitteln zu realisieren. So kam in den frühen siebziger Jahren ein didaktisches Konzept in Mode, das sich "programmierte Unterweisung" nannte. Es handelte sich um Bücher, die man nicht sequentiell lesen konnte, sondern die so aufgebaut waren, dass der Schüler kleine Informationshäppchen oder Fragen angeboten bekam und dazu eine Auswahl an Querverweisen zu anderen Stellen im Buch. Auch die Verweisziele waren Informationshäppchen oder Kommentare zu der ausgewählten Antwort mit neuen Querverweisangeboten zu anderen Stellen.
Es zeigte sich jedoch, dass das viele Blättern in solchen Büchern nicht gerade die Konzentration auf den Lehrstoff förderte. Hier sind Computer weit überlegen. Ein Klick mit der Maus auf einen Verweis, und das gewünschte Verweisziel wird angezeigt. Diese Tatsache kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Unterbrechungszeiten von mehr als drei Sekunden zerstören nachweislich eine anhaltende Konzentration. Blättern dauert meist länger und erfordert außerdem Gehirn-Reserven. Klicken und warten bis der neue Inhalt da ist geht in der Regel schneller und verbraucht keine oder viel weniger Reserven.
Elektronische Präsentation von Text hat allerdings auch Nachteile (es geht hier nicht um die Zwangsvorstellungen von Leuten, die meinen, nicht ohne Papier leben zu können): einem elektronischen Hypertext kann man nicht ansehen, wie groß er ist, d.h. man kann sich keine rechte Vorstellung davon machen. Das kann beängstigend oder beruhigend wirken, je nachdem, wie der Anwender gegenüber dem Medium eingestellt ist. Es kann angenehm sein, nicht zu wissen, wie groß "das Ganze" ist, weil man ja zunächst mal eh nicht alles zu überblicken imstande ist. Es kann aber auch unangenehm sein, so gar keine Vorstellung über das Ganze zu haben. Hypertext-interne Techniken wie Web-Views versuchen entsprechenden Ängsten beim Anwender entgegenzutreten.
Aber es bleibt nicht bei dem Problem, die Größe eines einzelnen Hypertextes zu erfassen. Hypertexte neigen nämlich ferner dazu, sich untereinander zu vernetzen und dadurch immer größere "Ganzheiten" hervorzubringen. Deshalb sind lokal auf einem Computer oder Speichermedium verfügbare Hypertexte auf die Dauer unbefriedigend. Schon früh (bereits 1965 bei Ted Nelson) kam deshalb der Wunsch auf, Hypertext-Einzelprojekte weltweit zu vernetzen. Doch erst Ende der achtziger Jahre, als das Thema Hypertext in weiteren Kreisen diskutiert wurde, wurde die Idee geboren, das weltweite Internet für einen Hypertext-orientierten Dienst zu nutzen. Aus diesen Überlegungen entstand Anfang der neunziger Jahre schließlich das World Wide Web.
Folgende grundsätzliche Positionen zu "Hypertext" lassen sich unterscheiden:
Rainer Kuhlen vertritt die erste Position am deutlichsten. Über die Linearität von Text schreibt er: "Linearität beruht aus texttheoretischer Sicht auch auf der richtigen Verwendung mikrotextueller, Kohäsion erzeugender Mittel". Dazu gehören z.B. ausdrückliche Leseanweisungen wie "dies ist so zu verstehen, dass...", oder hinweisende Ausdrücke wie "dies wurde ja schon im ersten Kapitel problematisiert". Die Zusammenhänglichkeit linearer Texte benutzt also immer auch Mittel, welche die Linearität sprengen. Diese Linearität sprengenden Mittel werden in Hypertexten einfach zum Prinzip erhoben. Aus Texten mit textimmanenten, Kohäsion erzeugenden Mitteln werden informationelle Einheiten ( Kuhlen), die durch ausführbare Verweise untereinander vernetzt werden. Die Verweise leisten dabei nichts grundsätzlich Neues. Es sind keine willkürlichen, sondern semantisch begründbare, argumentative Verknüpfungen, die zur Navigation oder zum Herstellen von Querbezügen dienen. Neu ist nur deren computer-unterstützte Ausführbarkeit.
Im Web gibt es beispielsweise unzählige kleine, in sich abgeschlossene Projekte, die bewusst die Mittel von HTML nutzen, um eine Hypertext-Struktur zu realisieren (die Homepage, bestehend aus ein paar Web-Seiten). Solche Projekte sind jedoch zu klein, um darin umfangreiche Daten-Recherchen durchzuführen. Sie sind am ehesten durch die Position zu beschreiben, die Rainer Kuhlen einnimmt.
P. Schnupp betont dagegen die Recherche-Position am deutlichsten - wohl auch deshalb, weil er kleinen Projekten gar keinen Hypertext-Charakter zubilligt. Seine Einführung zum Thema beginnt mit den Worten: "Das Bedürfnis, aus dem Hypertext entstand, ist das gleiche, welches von der Datei zur Datenbank führte". So wie die Datenbank bei strukturierten Daten gegenüber der Einzeldatei neue Möglichkeiten der Datenabfrage erschloss, will Hypertext "die interaktive Recherche in umfangreichen Textbeständen erleichtern und beschleunigen".
Neu sind für Schnupp bei Hypertext vor allem die intuitiven, kein tieferes EDV-Wissen voraussetzenden Recherche-Techniken: "Ähnlich wie die Spreadsheets dem individuellen Benutzer die Programmierung numerischer Anwendungsaufgaben zugänglich machten, bringt Hypertext ihm die selbständige Erstellung und Pflege umfangreicher Textarchive. Wie bei Daten wird auch bei Texten erst durch deren Verknüpfung ein großer Teil des in ihnen gespeicherten 'Wissens' zugänglich".
Bei Projekten mit großen Textbeständen stößt eine Realisierung mit lauter einzelnen, statisch abgespeicherten und aufrufbaren Texteinheiten in der Tat irgendwann an Grenzen. Bei solchen Datenbeständen erwartet der Anwender zu Recht eine Suchmöglichkeit, die den Datenbestand nach Ausdrücken oder Kriterien durchforstet und die Suchergebnisse "on demand" aufbereitet.
Die Auffassung vom kreativen Grundwesen von Hypertext hält sich ebenfalls noch immer. Gerade im literarischen Bereich wird - zumindest dort, wo die Autoren mit Computern umgehen können - mittlerweile viel mit Hypertext experimentiert. Dabei steht jedoch nicht unbedingt die Transparenz bei der Informationsbeschaffung im Vordergrund, sondern im Gegenteil sogar eher das "Locken des Lesers in lauter interessante Teilwelten". Der Rezipient wird dabei bewusst dem Stress ausgesetzt, an einer anderen Stelle, die er bereits verfolgt, aber per Verweis wieder verlassen hat, etwas zu verpassen. Ob dieses bewusste Unter-Stress-Gesetzt-Werden allerdings vom Rezipienten als spannend oder eher als nervig empfunden wird, gehört zur künstlerischen Kritik. Hypertext ist jedenfalls in der Lage dazu, solche Dinge mit Lesern zu treiben, und vernetzte Texte, die für sich selbst in Anspruch nehmen, ein künstlerischer Ausdruckswille zu sein, lassen sich nicht mit informationswissenschaftlichen Methoden messen.
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